Heute abend fängt das jüdische Passahfest an. Dies ist das Fest, das der Jude Jeschua ben Josef, der zum Jesus Christus wurde, mit seinen Jüngern feierte. Dies wurde im Christentum zum Abendmahl. In diesem Jahr laufen beide inzwischen sonst oft durch unterschiedliche Zeitrechnungen zeitlich und durch unterschiedliche Anlässe inhaltlich voneinander getrennte Feste wieder einmal parallel (Abend des 8. bis zum Abend des 16. April 2020).
Ich verstehe mich weiterhin als Jude, auch wenn ich von meiner Familie getrennt lebe. Die meisten Festlichkeiten im Judentum findet sowohl in der Familie als auch in der Gemeinde statt. So werden am Anfang des Festes ein oder zwei „Seder-Abende“ gefeiert. „Seder“ heißt im Hebräischen „Ordnung“. Der Abend verläuft nach einer bestimmten Ordnung ab und feiert einen Grundstein der jüdischen Erfahrung und des jüdischen Selbstverständnisses. Es feiert den Auszug aus der Versklavung in Ägypten. Wann dies genau war, ist umstritten. Die Diskussion geht von 1490 vor Chr. bis zum 1370 vor Chr. Obwohl im Judentum alles als geschichtlich angesehen wird, ist die Geschichte Teil eines Entstehungsmythos, der nicht zeitlich zu fixieren ist, aber grundlegend für das Selbstverständnis der Herkunft.
Mein eigenes Selbstverständnis als Jude wird einmal durch meine Kindheit und Jugendzeit in meiner jüdischen Familie und Gemeinde geprägt sowie durch alles, was ich im Judentum praktizierte, was man mich lehrte, was ich darüber las und über die geschichtliche Erfahrung des Judentums, besonders in der christlichen Welt, die fast mit dem sogenannten Holocaust, sprich mit dem Versuch Nazideutschlands die Juden gänzlich zu vernichten. Das Judentum ist als ein Verständnis als Volk, das auf eine bestimmte Weise seine Religion praktiziert. Es verbindet unzertrennbar Nation mit Religion. Das hat zu einer etwa 3000-jährige Geschichte von den Ursprüngen als Nomaden zu einem Verständnis als Volk, zu einer Gründung als Religion, dann als Nation an einem Ort, zu einer Spaltung des Landes und Verteilung über die Welt, zu einer Reihe von Verfolgungen bis hin zu der „Neu-Gründung“ Israels im Jahr 1948. Ich bin 1949 in England geboren worden. Bei all diesen Einflüssen und bei all den Unterschieden im Selbstverständis unter Juden selbst, bei ihren Versuchen, sich in die christliche bzw. islamische Welt zu integrieren und gleichzeitig getrennt und erkennbar, entsteht fast naturgemäß eine Reihe von Widersprüchen und Differenzen auch untereinander. Auch ist nicht jeder Jude religiös. Auch wenn ich heute von vielen Juden sicherlich nicht als religiös angesehen wäre und ich durch die Lebensentscheidungen, die ich getroffen habe, in keiner Gemeinde integriert bin, wirkt sowohl Religion als auch Nation weiterhin in mir und es wirken die Folgen des Versuches auch heute nach, das Judentum – Religion und Volk – vernichten zu wollen. Auch die moderne Geschichte Israels zeugt von diesen Widersprüchen und ungelösten Differenzen. Gerade die orthodoxen Juden lehnen die Existenz Israels ab, obwohl gerade sie fast am meisten davon profitieren.
Ich habe für mich versucht, meinen eigenen Weg durch diese Widersprüche zu finden, die alles beeinflussen: Ob Du heiratest, ob Du Kinder bekommst oder nicht, wie Du lebst, ob du Jude bleibst, ob es eine Wahl gibt, wie Du mit der Möglichkeit der Vernichtung umgehst (geschah nicht nur einmal in der jüdischen Geschichte, sondern ist unzertrennlicher Teil davon, besonders unter dem Christentum), ob Du Dich äußern darfst, ob es ratsam ist, Dich zum Judentum zu bekennen. Jeder Jude hat sich mit diesen Fragen mehr oder weniger befassen müssen, um für sich jeweils eine Lösung zu finden.
Ich habe schon von den „Narrensprüngen“ berichtet, mit denen ich versucht habe, mit dieser persönlichen Situation umzugehen, die ich mehr oder weniger mit Millionen anderer Juden teile. Meine Auseinandersetzung mit dem Judentum und mit dem Christentum betrifft aber nicht allein mich als Juden, sondern eine ähnliche Auseinandersetzung müsste eigentlich alle Christen betreffen, die sich für das Wohl ihres eigenen Selbstverständnisses nicht vom Umgang mit dem Judentums trennen können, ob sie es wollen oder nicht, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht. Und beide können nicht umhin, als sich mit dem Islam in ähnliche Weise auseinanderzusetzen.
Ich habe schon beschrieben, wie meine „Narrensprünge“ für mein Bestehen und für mein Humor entscheidend waren. Das Bestehen meines Humors war mit meinem eigenen Weiterbestehen als freier Mensch, der sich wertschätzt und einen würdigen Platz in dieser Welt einnimmt.
Ich bin darauf gekommen, wie wichtig es für den Humor ist, sich zu lösen, Spielraum und Freiraum zu finden. Da Humor sehr verschieden ist, wenn wir davon ausgehen, worüber Menschen lachen, wollte ich für mich herausfinden, ob es etwas gibt, was Humor eigentlich ausmacht, unabhängig davon, wo jemand her ist, unabhängig von den offensichtlichen und mannigfaltigen Differenzen unter den Menschen. Ich wollte herausfinden, was uns verbindet. Denn das ist mein Interesse und das, worin ich die größte Sicherheit unter unterschiedlichen Menschen vermute. Bei meiner Herkunft könnt Ihr das vielleicht nachvollziehen.
Ich sehe also im Humor den aktiven Wunsch danach, sich zu lösen, sich aus den Konflikten zu lösen, die uns innerlich und äußerlich so quälen – weil anscheinend unlösbar. Die Erfahrung des Lachens, des Miteinander-Lachens verbindet uns mit einer Form der „Hilflosigkeit“, die uns gut zu Gesicht steht, weil wir darin akzeptieren, dass wir nicht nur im Grunde nichts kontrollieren können, sondern dass wir gut beraten sind, unsere „Hilflosigkeit“ erst einmal zu akzeptieren, um was es auch immer geht. Erst daraus ergibt sich die beste Lösung, d.h. wie wir am besten handeln.
Wir sind dazu geneigt, die Dinge so zu sehen, wie wir sie immer sehen. Viele Konflikte entstehen aber gerade aus unserer unbeweglichen Sicht der Dinge. Wenn es uns aber nicht gelingt, eine andere Sicht der Dinge zu gewinnen, können wir nicht anders handeln, als wir immer handeln. Wenn wir aber genauso handeln wie immer, bleiben die Konflikte oder das Unvermögen bestehen. Wir müssten uns daraus lösen. Es müsste in uns etwas Anderes geben als die gelernte Prägung, die oft eine „Lösung“ oder wenigstens ein „Umgang“ war mit einem früheren Problem. Und zwar, es müsste diese Fähigkeit in uns geben, sich zu lösen. In diesem Fall wäre ein lösendes Lachen mit der Erkenntnis verbunden, dass die gelernte Prägung absolut unzulänglich sei, wenn nicht völlig entgegengesetzt von dem, was wir eigentlich brauchten. Wir müssten darüber lachen, dass wir uns trotzdem immer noch daran halten, obwohl diese Prägung nichts nützt. Wir müssten darüber sowohl lachen als auch darüber verzweifeln, dass wir immer noch an Lösungen festhalten, die sich in dieser Situation schon längst als unzureichend, gar widersinnig erwiesen haben.
Wir sind aber auch geneigt, uns darüber zu mokieren, dass man anders handeln könnte als sonst. Sonst wären wir nicht die, die wir sind. Wir handeln ja so, gerade weil wir so sind. Wenn wir anders handeln würden, wären wir irgendwie nicht richtig. Wir würden uns „verraten“. Also müssen wir so handeln, wir wir immer gehandelt haben. Sonst wären wir „blöd“. Wer anders spricht, ist „selbst blöd“, redet „Schwachsinn“.
Was hat das alles also mit dem Passahfest zu tun? Was hat all dies mit den Konflikten zu tun, die ich oben angesprochen habe. Was hat dies alles mit meinem Verständnis vom Judentum, von diesem Fest, ja von Humor zu tun? Ist das nicht alles sehr abgehoben?
Ich gehe gerne auf meine Ursprünge des Verstehens zurück, ob man dies unsere Entstehungsgeschichte oder unseren Entstehungsmythos nennt, um auf ein grundsätzliches Verstehen zu kommen, das mich auch heute handeln lässt. Mir ist es wichtig, aus einer Tradition zu lernen und in einer Tradition zu handeln, besonders wenn diese Tradition das Trennen aus der bekannten Prägung, sogar auf einem Bruch mit der Tradition besteht. Warum? Um einen Weg zu zeigen, den man immer als Mensch wieder finden muss, um das zu bleiben, was man ist und hofft zu bleiben: Ein Mensch.